Thüringen 8 Zu den Einheitsfeierlichkeiten rechnet der Freistaat Thüringen mit rund 120.000 Gästen aus ganz Deutschland. Sie werden drei Tage lang Gelegenheit finden, Thüringen näher kennenzulernen. Was werden sie hier sehen? Wie zeigt sich Thüringen im 32. Jahr der deutschen Einheit? Den WIRTSCHAFTSSPIEGEL interessiert natürlich vor allem der wirtschaftliche Aspekt. Wirtschaftsminister Wolfgang Tiefensee zeichnet imWIRTSCHAFTSSPIEGEL-Interview ein aktuelles Bild der Thüringer Wirtschaft aus seiner Sicht, spricht über die Probleme im Zusammenhang mit den anstehenden Krisen und plädiert für den Freistaat als attraktiven Lebens- und Arbeitsort für aufstrebende junge Fach- und Führungskräfte. „Die eigentliche Bewährungsprobe kommt erst noch“ WIRTSCHAFTSSPIEGEL-Interview mit Thüringens Wirtschaftsminister Wolfgang Tiefensee Herr Minister, Deutschland blickt zum Tag der Deutschen Einheit nach Thüringen. Wie findet es unseren Freistaat wirtschaftlich aufgestellt vor? Thüringen hat sich in den letzten Jahren und Jahrzehnten hervorragend entwickelt. Das zeigen wichtige strukturelle Indikatoren wie beispielsweise die Zahl der Industriearbeitsplätze, die Erwerbstätigenquote, der Anteil des verarbeitenden Gewerbes an der Bruttowertschöpfung, eine niedrige Arbeitslosigkeit – in diesen und weiteren Bereichen schneidet Thüringen im Vergleich zu anderen Bundesländern überdurchschnittlich ab. Vor allem bei der Produktivität gab es in den letzten Jahren auch im gesamtdeutschen Vergleich große Fortschritte. Die größeren Thüringer Mittelständler sind inzwischen sogar produktiver als Unternehmen vergleichbarer Größe in Westdeutschland. Dasselbe gilt für die Innovationsfähigkeit: Von den Ausgaben für Forschung und Entwicklung, die die Wirtschaft selbst aufbringt, stammen in Thüringen gut 40 Prozent aus dem Mittelstand – bundesweit liegt dieser Wert bei lediglich acht Prozent. Die Thüringer KMU investieren also überproportional in neue Produkte und Technologien. Die Thüringer Wirtschaft ist also solide aufgestellt und hat deutlich an Robustheit und Krisenresistenz gewonnen. Nichtsdestotrotz sind die äußeren Rahmenbedingungen – Krieg in Europa, Energiekrise, Materialengpässe, Lieferkettenprobleme– für unsere Unternehmen derzeit besorgniserregend, darum muss man nicht herumreden. Im Moment haben wir zwar noch keine Anzeichen für größere Schwierigkeiten in der Breite der Wirtschaft, im Gegenteil: Die Auftragsbestände sind hoch, zuletzt sogar gestiegen, und auch die Entwicklung der Industrieumsätze im ersten Halbjahr war grundsätzlich positiv. Das heißt, die Unternehmen verkraften die Situation bisher noch ganz gut. Aber Sie wissen so gut wie ich, dass es im Moment sehr viele Unwägbarkeiten gibt und die Lage sich jederzeit dramatisch ändern kann. Gerade die Preisentwicklung bei Gas und Strom ist eine existentielle Herausforderung und macht vielen Betrieben das Leben sehr schwer. Hier braucht es schnelle Entscheidungen und Hilfspakete vom Bund. Daneben hinaus versuchen wir in Thüringen, an den drei großen Transformationsherausforderungen dieser Zeit zügig weiterzuarbeiten: Demographie, Digitalisierung und Dekarbonisierung. Gerade das dritte Thema hat in der momentanen Krise ja einen ungeahnten Bedeutungszuwachs erfahren. Ja, wir reden über ein Land, dass immer noch mit den Folgen der Pandemie kämpft, und sich nun mit den Folgen des Krieges in der Ukraine konfrontiert sieht. Das löst auch in der Wirtschaft Sorgen aus. Sie waren auf Ihrer Sommertour im Land unterwegs und haben dabei auch zahlreiche Unternehmen besucht. Beschreiben Sie uns bitte die Stimmung, die Sie dort erlebt haben. Die Stimmung ist angespannt, den Unternehmerinnen und Geschäftsführern unserer mittelständischen Betriebe stehen verständlicherweise tiefe Sorgenfalten auf der Stirn. Was die Unternehmen jetzt allerdings nicht brauchen, sind immer weitere Appelle zur Energieeinsparung. Das Thema Dekarbonisierung ist längst in der Wirtschaft angekommen. Neben dem Arbeitskräftemangel und Lieferengpässen stehen Fragen der Energiesicherheit und der exorbitant gestiegenen Energiepreise ganz oben auf der Agenda. Dabei muss man aber auch sehen: Die Möglichkeiten der Energieeinsparung in den Unternehmen sind begrenzt und weitgehend ausgeschöpft. Und die Umstellung der Produktion auf regenerative Energien erfolgt wegen der mangelnden Verfügbarkeit entsprechender Produkte und Installationskapazitäten nicht so schnell wie erhofft. Also dann konkret zum wichtigen Thema der Energiepreise. Sie beschreiben dies als existenzielle Herausforderung. Das ist nichts, was Thüringen aus eigener Kraft allein stemmen könnte. Welche Forderungen machen Sie an den Bund auf? Erstens: Es braucht eine massive Unterstützung gerade der mittelständischen Betriebe in Industrie und Handwerk, sonst wird spätestens im Winter eine Insolvenzwelle durch das Land rollen. Die derzeitige Fokussierung der Energiepolitik auf Privathaushalte und energieintensive Industrien greift zu kurz. Wir brauchen gerade für die kleinen und mittleren Betriebe finanzielle Hilfe im Mangelfall – und mittelfristig zur Umstellung ihrer Produktion. Zweitens: Wir brauchen schnellstmöglich eine Neuordnung des Strommarkts und insbesondere eine Entkopplung vom Gasmarkt, um das Überspringen der rasant steigenden Gaspreise auf die Stromkosten zu verhindern. Spekulative Preisspitzen, wie wir sie gerade erleben, müssen unterbunden werden. Drittens: Keine Denkverbote bei der Beantwortung der Frage, wie wir energiepolitisch durch die nächsten Monate kommen! Ein Herunterfahren von Kraftwerken, die laufen und zur Bewältigung der Energiekrise beitragen können, sollte in der momentanen Situation eigentlich ausgeschlossen sein. Und viertens: Wir sollten die Diskussion über einen euro-
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